Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Aikidojournal 72DE (Ausgabe 4/2012, S. 33-36), veröffentlicht worden.
Kindertraining
Aikido mit Kindern erweckt neuen Schicksalsweg ...
von Christoph Klauck
Das
Hombu Dojo stellte ein Kindertraining zunächst in Frage, schreibt
Meister Ueshibas Sohn Ueshiba Kisshomaru in seinem Buch „Der Geist des
Aikido“.
Mein Sohn besucht seit August 2010 die Grundschule an
der Oderstraße in Bremen und seitdem biete ich dort die Aikido AG für
die ersten beiden Klassen an: Freitags in der fünften Schulstunde, der
AG-Stunde. Als Raum steht mir der Bewegungsraum (ca. 50qm,
Teppichboden) ohne Materialien zur Verfügung. Nach 16 Jahren Aikido
Training und Trainer der Gruppe blinder Menschen war ich der Meinung,
genügend von Aikido verstanden zu haben, um diese AG durchführen zu
können. Meine erste Stunde verlief anders als gedacht: Qigong, das in
unserem Dojo intensiv praktiziert wird, und erste Aikido-Bewegungen
sollten die Kinder nach einer anstrengenden Schulwoche entspannt in das
Wochenende geleiten. Das Konzept hielt keine 10 Sekunden. Nachdem neun
Jungs den Raum erstürmt hatten und gleich voller Freude mit Tritten und
Schlägen demonstrierten, was sie unter Budo-Sport verstehen, haben sie
nicht nur das Konzept direkt in Frage gestellt sondern regelrecht die
dahinter stehende Idee von der (nicht vorhandenen) Matte gefegt.
Gut,
dachte ich, vielleicht war es das dann, ich habe ja noch eine Familie
und einen Beruf als Professor der Informatik, die das Leben und den
Terminkalender ausfüllen. Ist Aikido also doch nur etwas für japanische
Kinder oder Kinder aus bildungsnahen Familien, eine Budo-Sportart für
Intelektuelle? Sollte ich aufgeben und im nächsten Schulhalbjahr keine
Aikido AG anbieten? Oder stringenter durchgreifen? Wenn Aikido sich als
Weg begreift und von allen Menschen „unabhängig von Alter, Geschlecht
oder athletischem Können“ praktiziert werden kann, warum sollte dieser
Weg nicht in einer AG an einer Grundschule beginnen können? Damit war
für mich die Diskussion um die Elemente des Aikido eröffnet und die
Kinder (halbjährlich wechselnd) sind mir bis heute, ohne sich dessen
bewusst zu sein, harte Diskussionspartner. Meister Ueshiba Kisshomaru
schildert in seinem Buch einen stellvertretenden Trainer des Hombu
Dojo, der durch die Kinder erneut an die Grundprinzipien der Liebe und
Harmonie erinnert wurde. In meiner AG stand mir ein ähnliches Schicksal
bevor, von dem ich hier im Folgenden berichte.
In
unserem Dojo wird eine (wissenschaftliche) Kultur gepflegt, die das
Aikido selbst, die Bewegungen und äußere Einflüsse stets hinterfragt
und neu diskutiert. Ich stehe also nicht alleine in der Debatte mit den
Kindern: u.a. stehen mir mein Lehrer Michael Masch, 4. Dan, Dipl.
Sozialpädagoge, Renate Bäuerle 3. Dan, Grundschullehrerin sowie unsere
Kindertrainerin Maike Hildebrand 1. Dan zur Seite. Auch in der
Literatur habe ich wertvolle Diskussionsbeiträge gefunden, z.B. bei V.
Sommerfeld et al: „Toben, raufen, Kräfte messen“. Es galt, das Konzept
der AG grundlegend zu überarbeiten: Über welchen Weg sollte ich
versuchen, Aikido zu vermitteln? Der äußere Weg (die äußere Form
betonend) gestaltete sich als schwierig, z.B. weil die Kinder sich
nicht noch für 45 Minuten umziehen können. Außerdem haben sie eine
anstrengende Schulwoche hinter sich, in denen ihnen schon viel äußere
Form abverlangt wurde. Und dann sollen sie sich in der AG noch in eine
äußere Aikido-Etikette zwängen? Um die neun Jungs einigermaßen in den
Griff zu bekommen, hatte ich in der AG das sogenannte Ampelsystem der
Schule übernommen und wie üblich, sichtbar für alle im Raum aufgehängt.
Danach bedeutet z.B. Rot ein Gespräch mit der Schulleitung und den
Eltern. Eine schnelle, bequeme Lösung. Aber diese Drohung im Raum
passte für mich nicht zum Aikido. Sollte ich stattdessen über den
inneren Weg (die Bewegung betonend) Aikido vermitteln? Als ich von
Michael Masch vor einigen Jahren das Training unserer Gruppe blinder
Menschen übernommen habe, gab es ein Schlüsselerlebnis: Auf einen
Hinweis von mir an die blinden Menschen, ich hätte die Bewegung anders
gezeigt, als sie sich bewegen, kam die für mich überraschende Antwort,
ich hätte sie aber genau so bewegt. In dieser Gruppe kann ich Aikido
nur über den inneren Weg vermitteln. Dazu muss man aber die Materie
selbst tief genug durchdrungen haben. Die blinden Menschen mit großen
Augen anschauen - das imponiert ihnen keineswegs. Sie mit voller
Aufmerksamkeit anschauen, auch mit geschlossenen Augen - das spüren
sie. In der äußeren Form mag man das eine oder andere unbewusst oder
bewusst kaschieren können. Der innere Weg ist unverfälscht und ehrlich.
So verstehe ich auch Endo Seishiro Sensei, wenn er uns bittet, wie
Blinde zu fühlen.
Aikido ist Bewegung.
Die Kinder schlupfen in die Tanzsäcke und legen bei Musik los. Nach
einer Minute hätte ich die Musik ausschalten können, da sie sich jetzt
losgelöst von der Musik frei bewegen. Nach kurzer Zeit weiß niemand
mehr, wer in welchem Tanzsack steckt: sie bewegen sich nun alle
zusammen, ob Migrant (im Schnitt ca. 50%), Mädchen (im Schnitt ca.
25%), Verhaltensauffällig oder einfach nur Kind.
Aikido ist Beziehung.
Die Bewegungen im Aikido sind intensiver Körperkontakt. Somit eröffnet
der innere Weg über diesen Kontakt eine besondere Beziehungsebene
zwischen den Kindern. Für manche Kinder ist diese Körpererfahrung
leider Neuland. Dies führte mich zur konstruktivistischen Didaktik (K.
Reich: „Konstruktivistische Didaktik“), die die Beziehungsdidaktik
betont. Ich zog eine Zwischenbilanz: Ich möchte versuchen, Aikido
beziehungsdidaktisch zu vermitteln. Den in ihren Reaktion ehrlichen
Kindern mit einer ehrlichen Bewegung begegnen und somit den inneren Weg
wählen. Ein Kind hält seine Augen geschlossen und streckt mir seine
offene Handinnenfläche zu. Ich führe ihm meine Handinnenfläche auf
seinen und meinen Laogong Punkt konzentrierend langsam entgegen. Das
Kind soll sich melden, wenn es meine Hand fühlt. Dies ist bereits bei
einem Abstand von ca. 10cm der Fall! Aufregung kommt im Raum auf. Alle
Kinder wollen dies nun sofort mit mir ausprobieren. Weil sie nicht so
lange warten wollen und neugierig sind, probieren sie es nun auch
intensiv untereinander aus. Diskutiert man so mit Kindern über Qi? Im
ersten Schulhalbjahr habe ich versucht, Sponsoren für die AG zu finden.
Dies ist mir im Dezember 2010 geglückt: das Förderprogramm „Bremen
macht Helden“ der Sparkasse Bremen bewilligte den Antrag im vollen
Ausmaß, so dass ich 20qm Matte und eine riesige Kiste an Materialien
einkaufen konnte. Im Förderantrag hatte ich das Ziel der
Gewaltprävention und in diesem Zusammenhang bestimmte Körperprozesse
betont.
Aikido ist gewaltfrei.
Deshalb ist Aikido eine der wenigen Budo-Sportarten, die an einer
Schule praktiziert werden darf. Mein Unterrichtskonzept wurde nochmals
klarer: Ich wollte über den inneren Weg beziehungsdidaktisch die
körperlichen Prozesse mit Aikido anreichern, frei von einer äußeren
Form, frei von Gewalt und frei von Lernzielen für den Kopf. Einen
festen Rahmen braucht die AG natürlich dennoch. Wir begrüßen und
verabschieden uns in der Aikido-üblichen Weise und in der zeitlichen
Aufteilung nutzen wir 15 Minuten für das Aufwärmen und die reinen
Aikido-Bewegungen und 30 Minuten für die Aikido-Spiele. Aikido-Spiele?
Wie schrieb Meister Ueshiba Kisshomaru in seinem Buch: „Sport- und
spielähnliche Elemente, …, sind [im Aikido] kaum vorhanden,…“.
Damit war nun auch der Diskussionsraum klar: in den Aikido-Spielen
sollten die Elemente des Aikido einzeln geübt und diskutiert werden, um
die Bewegungen sowie das Verständnis für Aikido gut vorzubereiten.
Leseanfänger kann man nicht gleich mit Goethes Faust konfrontieren,
sondern man sollte sie kindgerecht und „häppchenweise“ an die Literatur
heranführen. Ideen für mögliche Aikido-Spiele habe ich vorwiegend in
der Literatur gefunden: z.B. T. Orlick: „Zusammen spielen - nicht
gegeneinander!“ oder auch M. Korn: „Budo-Spiele für alle
Kampfsportarten“.
Aikido ist Raumwahrnehmung.
Wir werfen unsere Chiffon Tücher nach oben und es gilt, das Tuch des
gegenüber stehenden Partners durch Platztausch zu fangen. Wo bin ich?
Wo ist mein Partner? Wo ist sein Chiffon Tuch? Dreieinhalb Stunden nach
der Aikido AG bin ich in unserem fortgeschrittenen Training, unserem
Yudansha. Auch hier üben wir die Raumwahrnehmung, direkter und
ganzheitlicher.
Aikido ist Grenzerfahrung.
Ich hebe die Kinder über meinen Kopf. Sie stellen ihre Füße auf meine
Schultern und richten sich dann auf, sich absichernd an meinen Händen.
Von 1,30m Körpergröße auf 3,20m Körpergröße in einer Sekunde. Lachen,
kurze, erlösende Schreie. Ihre Körper fühlen sich über die Füße und
ihre Hände entspannt an. Wir bewegen uns durch den Raum in Harmonie.
Ein Junge, gerne auch mal etwas Macho, wird nach oben befördert. Auch
hier Lachen, kurze Schreie. Seine Knie bleiben aber auf meiner
Schulter, seine Hände fühlen sich verkrampft an. Wir gehen etwas durch
den Raum, dann geht es wieder abwärts. Der Macho? Der Gewinner?
Vergessen, überglücklich, und sehr beeindruckt, soweit gekommen zu
sein. Und nachmittags im Yudansha? Auch hier Grenzerfahrungen beim Wurf
oder den kraftvollen, dynamischen Bewegungen. Das in unserem Dojo
angebotene Ukemi-Waza führt uns ebenfalls sanfter an diese
Grenzerfahrungen heran. Nicht alle Anfängerinnen bei uns sind
sportliche Twens.
Aikido ist ein Weg.
Es klingt nun fast so, als wäre der Stein des Weisen gefunden.
Mitnichten! Immer wieder probiere ich neue Spiele aus, werden Spiele
durch die Kinder selbst oder mich spontan verändert, oder die Stunde
wird komplett umgestaltet, weil die Kinder - inzwischen begreife ich es
so - eine besondere Energie bzw. Diskussionsfreudigkeit mitbringen.
Mein Repertoire an Aikido-Spielen umfasst zurzeit 35 Spiele und etwa
alle zwei Wochen kommt ein Neues hinzu, immer weiter auf der Suche. Es
ist inzwischen klar, dass es sich um kleine Spiele handeln muss, also
Spiele, die in ein bis zwei Sätzen erklärt sind. Meine Rolle hat sich
inzwischen verändert, ich leite nicht, sondern ich begleite. Machen wir
das nicht auch im Yudansha? Als Tori den Uke bzw. als Uke den Tori in
der Bewegung, auf seinem Weg begleiten? Werden wir nicht genau dann
statisch in der Bewegung, wenn wir leiten wollen?
Aikido ist Vertrauen.
Die Kinder sitzen auf meinen ausgestreckten Armen mit dem Rücken zu mir
und halten sich an meinen Händen fest, auf etwa 1,30 m Höhe. Die
Aufgabe ist, nach vorne, quasi ins Leere zu rollen. Wieder eine
Grenzerfahrung, die gleichzeitig das absolute Vertrauen voraussetzt,
von mir gehalten zu werden, um nicht auf den Boden zu stürzen. Am
Nachmittag im Yudansha arbeiten wir ebenfalls mit gegenseitigem
Vertrauen: je klarer unser Partner ist, desto konsequenter und
vertrauensvoller können wir in die Bewegung gehen. Fehlt dieses
Vertrauen, kommen Ängste auf, verweigert sich unser Körper, oft durch
Verkrampfungen und Blockaden.
Aikido ist Konsequenz.
Wir üben mit dem Soft-Jo (halbierte Schwimmnudel). Haben die Kinder in
den ersten Tagen der AG noch vorwiegend auf mein Soft-Jo geschlagen, so
greifen sie mich inzwischen mit einer Konsequenz als ganze Person an,
die fast an die Forderungen eines konsequenten Angriffs von Miyamoto
Musashi in seinem Buch der fünf Ringe erinnert. Wenn ein Aikidoka den
Angriff von mehreren Angreifern üben möchte, kann ich diese Kinder
empfehlen.
Wie ist es mit der Liebe und Harmonie,
die Meister Ueshiba Kisshomaru in seinem Buch anspricht? Der Begriff
der Liebe ist in unserer Kultur heute etwas anders besetzt und in der
AG von Liebe, gerade als Mann, gegenüber den Mädchen zu sprechen,
könnte fehl interpretiert werden. Ein vertrauensvoller, freundlicher
Umgang und Harmonie, bzw. Kimusubi, wie Endo Seishiro Sensei es oft
nennt, ist in der AG, wenn auch in bescheidener Größe, angekommen und
wird immer wieder neu erarbeitet. Manchmal kann es bei einigen Kindern
vorkommen, dass sie einen besonders schwierigen Tag mitbringen. Wenn
Bewegungen nicht helfen, setze ich inzwischen statt der Ampel die
„Keine-Lust/Frust Bank“ ein. Die Kinder können es sich auf einer Bank
im Raum bequem machen. Dort kommen bisher alle zur Ruhe. Manche kommen
nach drei Minuten wieder zurück, da die Freude der anderen Kinder doch
zu verlockend ist. Manche wickeln sich aber in eine Decke ein und
kuscheln bis zum Ende der Stunde. Diese Situation erfordert von mir
eine besonders hohe Konzentration, um den Kindern auf der Bank das
Gefühl zu vermitteln, stets betreut zu sein.
Wenn ich ein
Resümee zum aktuellen Stand ziehen kann, dann, das Aikido tatsächlich
mit Kindern (und blinden Menschen) zu funktionieren scheint.
„Funktionieren“ soll heißen, es kommt bei Kindern aller Couleur an. Ob
sie es aufnehmen und weiter entwickeln werden ist ihre Entscheidung, da
es auch ihr Weg ist. Konsequenter Weise gibt es nach meiner Erfahrung
kein „richtiges Aikido“, weil das - einmal formal festgeschrieben - das
Ende des Weges implizieren würde. Der Begriff Aikido ist ähnlich dem
Begriff Leben nicht formal zu definieren. Meister Ueshiba Kisshomaru
nennt sein Buch wohl auch daher „Der Geist des Aikido“ und nicht etwa
„Richtiges Aikido“. Wie schrieb schon Heraklit: „Alles fließt“. Das
Kindertraining in der AG ist natürlich anders als das Training im
Yudansha. Das Aikido in der AG ist etwas reduzierter, lokaler als im
Yudansha. Dort ist es ganzheitlicher, globaler - aber ansonsten ist es
das gleiche Aikido. Weitere Elemente des Aikido gilt es zu
identifizieren bzw. die gefundenen besser zu verstehen. Der Weg und die
Diskussion gehen weiter: Es ist Freitag, 12:15 Uhr. Die Kinder kommen
aus der Pause und der Raum füllt sich mit Lachen, Gejauchzte, Schreien
und vor allem mit einem: mit Bewegung! Herzlich willkommen in Aikido -
die Bewegungsschule.
Es gibt eine allgemeine Beschreibung der Aikido AG.
Anlässlich einer Präsentation wurde ein Zwischenbericht erstellt.
Zu unserer Homepage AikiDojo-Bremen.de.